"Ich bin stolz darauf, Agarner Burger zu sein"
mk).- Mit diesen Worten richtete sich Neuburger Thomas Matter, im 23. Jahr Lehrer in Agarn, am vergangenen 24. Februar an die Burgerversammlung. Zusammen mit seinen Söhnen Maurice und Mathis wurde er von Burgerpräsident Albert Tscherry offiziell als Burger von Agarn willkommen geheissen. Für den Agarnär war diese Versammlung, der Burgärtrüüch, welche traditionell an Sankt Mathias abgehalten wird, Anlass, die Burgergemeinde, ihre bewegte Geschichte der Ablösung von Leuk und die heutige Bedeutung etwas näher unter die Lupe zu nehmen. Wir entdeckten eine lebendige, dynamische Burgergemeinde, welche einerseits stark in der Tradition verwurzelt ist, sich andererseits aber auch nicht davor scheut, der gesellschaftlichen Entwicklung ins Auge zu schauen.
Die heutige Burgerversammlung hat nicht mehr viel mit dem manchmal feucht-fröhlichen Burgärtrüüch von früheren Zeiten zu tun. Damals wurde gelegentlich ein Teil des Ertrages der Burgerreben, nicht wie heute, an die Nutzniesser der Burgerschaft verteilt, sondern gleich an Ort und Stelle konsumiert. Dies ging sogar so weit, dass der Staatsrat für den ganzen Kanton ein Verbot erliess, anlässlich der Burgerversammlungen Wein auszuschenken.
Der Tag des Burgärtrüüchs begann am Morgen mit einer hl. Messe zum Gedenken der verstorbenen Burger/innen. Dann traf man sich zur Burgerversammlung. Weil die "Chippiserarbeiter", welche erst am Nachmittag wieder in Agarn waren, am Morgen nicht dabei sein konnten, gingen die Versammlungsteilnehmer vom Vormittag gegen Mittag nach Hause, um sich für den zweiten Teil des Treffens zu stärken. Im Laufe des Nachmittags traf man sich dann wieder und ging erst am späten Abend nach Hause. Im Protokoll der Versammlung vom 24. Februar 1958 vermeldet der Schreiber Viktor Oggier: "Nachdem "Geschäftliches" erledigt war, ging es mit gutem Appetit und nicht wenig Durst dem gemütlichen Teil zu. Jerjen Albinus gab dann ein paar zünftige Witze zum Besten und so ging es dann ziemlich lustig und im Frieden bis am Abend um 8 Uhr…".
Der Schreibende kann sich noch gut an Schultage nach dem 24. Februar erinnern. An der Wandtafel der Schulstube stand in grossen Lettern "Sankt Mathys brichts Isch". Das was der positive Teil der Spuren des Burgärtrüüchs. Der andere, unangenehme, war der eklige Gestank von kalter Asche und Wein.
Raclettenschmaus statt Trinkgelage
Anlässlich der Burgerversammlung vom vergangenen 24. Februar, welche von Albert Tscherry sehr kompetent und speditiv geleitet und von rund 30 Burgern und Burgerinnen besucht wurde, konnte man sich ein Bild von der heutigen Burgergemeinde machen.
Am Vorstandstisch nahmen neben dem Präsidenten Albert Tscherry noch Vizepräsident und Schreiber Rolf Grand, der neue Kassier, Peter Grand, sowie der scheidende Kassier Franz Mathieu Platz. Letzerem wurde mit kräftigem Applaus für seine 20-jährige Tätigkeit als umsichtiger Kassier der Burgergemeinde gedankt.
Gegenwärtig besteht die Agarner Burgergemeinde aus 135 Burgerinnen und Burgern, von denen 57 so genannte Nutzniesser sind. In der Kasse befindet sich ein Vermögen von ca. 60'000 Franken. Dazu ist die Burgergemeinde stolze Besitzerin eines kleinen Weinberges von 726 m2 auf dem Ringacker in Leuk. Mit den Zinsen des Kapitals und dem Rebertrag berappt man den Brugärtrüüch.
Traditionsgemäss beginnt die Burgerversammlung mit einer hl. Messe für die verstorbenen Burger/innen. Anschliessend folgt im Gemeindezentrum der geschäftliche Teil, an dem auch Pfarrer Andreas Werlen als Gast teilnimmt. Das Treffen wird mit einem Apéro und einem ausgiebigen Racletteschmaus in guter Stimmung abgeschlossen.
Schwierige Ablösung von Leuk
In seinem Buch "Agarn gestern heute morgen" schreibt Dr. Alois Grichting: "Wann eigentlich Agarn Burgerschaft wurde, lässt sich aus den heute vorliegenden Dokumenten nicht ersehen. … Der grösste Teil der Burger wohnte in Leuk, Turtmann und Albinen. Die heutigen Agarner Burger trennten sich in einer am 11.3.1935 getroffenen Vereinbarung nach verschiedenen zähen und teilweise nicht erfreulichen Verhandlungen von den alten Burgern ab. Heute gibt es noch Agarner Burgerschaften, (A.d.R. sogenannte Korporationen) der Altburger in Leuk und Turtmann (A.d.R. Wer von ihnen auch in Agarn Burger werden will, muss sich formell anerkennen lassen und dafür einen bestimmten Betrag bezahlen) … Die Bestrebungen der Agarner Einwohner, selber Burger ihrer Gemeinde zu sein, zeigen sich schon früh. Es war auch eigenartig, dass die meisten wirklichen Agarner Burger ausserhalb der Gemeinde wohnten, dass in der Gemeinde lange Jahre nur Rektor Ignaz Hasler Burger war, dass die Burgerversammlungen immer im Rathause zu Leuk, also ausserhalb der Gemeindegrenzen von Agarn stattfanden und dass die eigentlichen Agarner in der Burgerschaft Agarn nichts zu sagen hatten…"
Blick ins alte Protokollbuch
Politisch und kirchlich war Agarn früher stark an Leuk gebunden, ja sogar ein Teil der Gemeinde und Pfarrei Leuk. Da machte die Burgergemeinde keine Ausnahme. Auch als die Burgerschaft Agarn schon als solche bestand, setzte sich der Burgerrat aus lauter Agarner Burgern zusammen, die in der Gemeinde Leuk oder Turtmann wohnten. Sowohl die Sitzungen des Burgerrates als auch die Burgerversammlungen wurden im Rathaus von Leuk abgehalten.
Nachdem die Gemeinde Agarn von Leuk unabhängig geworden war (1892 waren erstmals nur Agarner im Gemeinderat) und der Gründung der Pfarrei (1922) versuchte auch die Burgerschaft Agarn, sich von der Leuker Dominanz zu befreiten. Dass dies nicht ohne Schwierigkeiten ablief, belegen einige Auszüge aus dem Protokollbuch 1923 bis 1979.
25. Febr. 1924: Gesuch von Neuburgern von Agarn, dass die Burgerversammlungen in Agarn statt in Leuk abgehalten werden. Unter allgemeinem Protest gegen eine solche Zumutung wird mit 52 zu 7 Stimmen der Antrag abgewiesen. Der Rat wird beauftragt, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln und der äussersten Energie sich dieser Neuerung, die einen Bruch mit der alt hergebrachten Tradition bedeutet, zu widersetzten, namentlich den Gerichtsgang zu beschreiten….
Dezember 1928: Albert Roten wird als erster Agarner zum Burgerpräsidenten gewählt.
6. Februar 1929: Der Rat tagt zum 1. Mal in Agarn (Wohnung Albert Roten)
20. Februar 1930: Der Staatsrat erteilt dem Agarner Burgerrat die Bewilligung, die Bücher im Archiv Leuk abzuholen. Leuk gibt sie nicht heraus.
1.3.1933: Der Burgerrat verlangt, die ordentlichen Burgerversammlungen künftig in Agarn abzuhalten.
24. Februar 1933 im Rathaus in Leuk, Präsident Heinrich Bregy: "Um die ständige Uneinigkeit zwischen einheimischen und auswärtigen Burgern auf weiteres zu vermeiden, stellt Grand Fritz den Antrag, eine Trennung der Burger sowie des Burgervermögens vorzunehmen…Die ärgsten Schimpfnamen wurden dem Burgerrate vorgehalten, sogar Diebe und auswärtiges Gesindel wurden sie geheissen. Die Situation war derart, so dass es bald zu handgreiflichen Ausschreitungen gekommen wäre. Unter fürchterlichem Gepfeif und Gejohle musste der Burgerrat das Versammlungslokal verlassen. Der Präsident sah sich genötigt, die Versammlung aufzulösen…"
31.12.1934: Der Burgerrat schliesst die Sitzung in dem guten Vertrauen auf Gott, bald die erste Burgerversammlung in Agarn zu begrüssen.
29. September 1935: Ausserordentliche Burgerversammlung im Schulhaus Agarn. Beschluss, die Burgerversammlung wie bis dahin immer am Feste des St. Mathias abzuhalten.
1935: Beschluss zur Trennung der ortsansässigen von den auswärtigen Burgern
1938: Die auswärtigen Burger von Agarn trennen sich in die beiden Korporationen Leuk und Turtmann. (A.d.R. Die beiden Korporationen existieren noch heute).
1952: Der Burgerrat wird von 5 auf 3 Mitglieder reduziert.
Im Gespräch mit dem Burgerpräsidenten
Albert Tscherry präsidiert die Agarner Burgergemeinde nunmehr schon im 17. Jahr. Damit ist er auf dem besten Weg, den bisherigen Rekord von Walter Mathieu (20 Jahre) zu egalisieren. Der Agarnär konnte sich im Vorfeld der diesjährigen Burgerversammlung mit ihm unterhalten. Hier seine Antworten zu einigen der Fragen, die wir ihm stellten:
1. Warum ist gerade Sankt Mathias der Schutzpatron der Agarner Burgerschaft?
Aus den vorhandenen alten Dokumenten geht hervor, dass die Burgerversammlung bzw. der Burgärtrüüch seit jeher am 24. Februar, dem Fest des heiligen Apostels Mathias stattgefunden hat. (Ausnahme sonntags). Vermutlich wurden an diesem Datum die anfallenden Arbeiten besprochen respektive verteilt. Früher wurden die Rebarbeiten durch die Burger selbst besorgt.
Anmerkung der Redaktion: Dass diese Vermutung stimmen könnte, belegen auch die folgenden Tatsachen: Der hl. Mathias kam nach der Himmelfahrt Christi durch das Los als Nachrücker in das Apostelkollegium, um den Platz des Judas einzunehmen. Mehrere Bauernregeln bestätigen, dass der hl. Mathias im Volksglauben mit dem Wiedererwachen der Natur im Frühjahr in Verbindung gebracht wurde. So z.B. neben dem bei den Agarner Burgern bekannten "Sankt Mathys brichts Isch" noch "St. Mathias hab' ich lieb, denn er gibt dem Baum den Trieb."; "Wie's Petrus und Mathias macht, so bleibt es noch durch vierzig Nacht."; "Nach Matheis geht kein Fuchs mehr übers Eis."; "St. Matheis wirft einen grossen Stein ins Eis."; "Wenn Matheis kommt herbei, legt die Henne das erste Ei."; "Tritt Mathias stürmisch an, wird bis Ostern Winter sein."; "Ist's zu St. Mathias kalt, hat der Winter noch lange Gewalt."; "Sankt Matheis kalt, die Kälte lang halt."
2. Hat man in Agarn schon mal versucht, eine Frau für den Burgerrat vorzuschlagen?
Bis anhin war der Burgerrat eine reine Männerangelegenheit. Bis heute stand nie zur Diskussion ob eine Frau für diesen Posten vorgeschlagen werden sollte. Gegenwärtig sucht das abtretende Burgerratsmitglied selber seinen Nachfolger, der dann anlässlich der Wahlen von der Burgergemeinde noch bestätigt werden muss.
Nichts spricht dagegen, dass in Zukunft die Frauen im Agarner Burgerrat Einzug halten. Wir fühlen uns in gewissen Punkten der Tradition verpflichtet (Totenehrung am Tag der Burgerversammlung, Burgerversammlung an St. Mathys, …) sind aber offen für Veränderungen und die Entwicklung in der Gesellschaft. Waren früher die Burgerversammlungen reine Männersache, nehmen heute auch viele Frauen daran teil.
3. Welche Bedingungen muss eine Person erfüllen, um in Agarn Ehrenburger/in zu werden?
Was kann die Burgerschaft Agarn einem Ehrenmitglied schon bieten, ausser dem Titel "Ehrenburger von Agarn". Artikel 17 des Reglements der Burgergemeinde von 1998 bestimmt diesbezüglich: "Das Ehrenburgerrecht kann auf Antrag des Burgerrates durch die Burgerversammlung Personen verliehen werden, welche der Burger- oder der Munizipalgemeinde Agarn grosse Dienste erwiesen haben oder welche sich sonst in der Gesellschaft oder für die Wirtschaft besondere Verdienste erworben haben. …". Dazu ist zu bemerken, dass das Ehrenburgerrecht bisher nur einer einzigen Person verliehen wurde, nämlich Dr. Professor Albert Julen, im Jahre 1960 als Erbauer der Kirche, erstem Pfarrer und Wohltäter der Pfarrei und Gemeinde Agarn. Vielleicht wäre es angezeigt, dem 1968 verstorbenen ersten und bisher einzigen Ehrenburger einen heute noch lebenden hinzuzufügen.
4. Ist auf der Internet-Website der Gemeinde (www.agarn.ch) eine Rubrik für die Burgergemeinde geplant?
Einen ersten Schritt in diese Richtung haben wir bereits unternommen. Auf der Internetseite der Gemeinde wurde kürzlich auch die Rubrik "Burgerschaft" aufgeschaltet. Vorläufig entdecken wir da die Zusammensetzung des gegenwärtigen Burgerrates, das Burgerreglement von 1998 sowie diesen Artikel im Agarnär.
Es ist geplant, diese Rubrik in der Folge laufend auszubauen mit Beiträgen wie etwa Geschichten aus dem alten und jetzigen Protokollbuch, einem jährlichen Bericht über die Burgerversammlung (so finden wir in der Fotogalerie der Gemeinde bereits eine ganze Reihe von Fotos aus der diesjährigen Versammlung), usw. zu ergänzen.
5. Wie steht es mit dem Archiv der Burgerschaft Agarn? Ist es öffentlich zugänglich?
Das Archiv der Agarner Burgerschaft ist relativ jung. Wir sind im Besitze von einigen Unterlagen wie z.B. Altes Burgerreglement - Waldreglement - neues Burgerreglement - altes Protokollbuch 1923 bis 1979 - neues Protokollbuch 1980 bis heute - Kassabuch - Burgerverzeichnis - Verzeichnis der Nutzniesser.
Diese Dokumente sind bei den Ratsmitgliedern und können, nach Rücksprache mit diesen und deren Einwilligung, eingesehen werden.
Gemäss dem Buch "Agarn gestern heute morgen" von Dr. Alois Grichting gibt es noch eine ganze Reihe von älteren Dokumenten, die sich gegenwärtig im Archiv der Burgerschaft von Leuk, dem Kantonsarchiv in Sitten, der Kantonsbibliothek in Sitten und z. T. in privatem Besitz befinden. Es wäre wünschenswert, wenn alle diese Dokumente in einem Gemeindearchiv vereinigt werden könnten. Für eine an der Geschichte interessierte Person, z. B. für einen Studenten, könnte es eine sehr interessante Aufgabe sein, aus all diesen Dokumenten eine leicht lesbare Zusammenfassung in Form einer Broschüre oder gar eines Buches zu verfassen, wie es der Turnverein vor 4 Jahren anlässlich seines 50-jährigen Bestehens vorgemacht hat.
Am vergangenen 6. Februar war es immerhin genau 80 Jahre her, dass der erstmals nur aus ortsansässigen Agarner Burgern bestehende Burgerrat zum ersten Mal in Agarn, in der Wohnung des 1. in Agarn wohnhaften Burgerpräsidenten, Albert Roten, tagte (vorher immer im Rathaus von Leuk).
An Bedeutung verloren
Wer früher Schweizerbürger werden wollte, musste zuerst in einer Burgergemeinde das Burgerrecht erwerben. Dies war je nach Grösse und Bedeutung der Gemeinde mit enormen Kosten verbunden.
Mit der neuen Gesetzgebung hat das radikal geändert. Ein Ausländer, der die gesetzlichen Bedingungen erfüllt, kann Schweizerbürger werden, indem er in einer Munizipalgemeinde als Bürger anerkannt wird. Bezahlen muss er lediglich noch die Kosten für den administrativen Aufwand. Burger muss er nirgends mehr werden, um als Schweizerbürger anerkannt zu werden.
Wer dann aus bestimmten Gründen doch noch in einer Burgergemeinde eingeburgert werden möchte, muss dafür die im Burgerreglement vorgesehenen Auflagen erfüllen und auf sich nehmen. So bezahlt z.B. ein Ausländer Ehepaar in Agarn eine Einburgerungstaxe von 7'500 Franken sowie 500 Franken für jedes minderjährige Kind. Dazu muss der Neuburger seinen Mitburgern den traditionellen Bürgärtrüüch offerieren (2'500 Franken).
Auch wenn die Burgergemeinde juristisch und politisch nicht mehr die gleich wichtige Rolle wie früher spielt, hat sie im Dorfleben nichts an Bedeutung eingebüsst. Agarner Burger zu sein ist halt doch noch einiges mehr, als "nur" Agarner Bürger zu sein, auch wenn die Burgergemeinde finanziell und materiell nicht gerader auf Rosen gebettet ist. Thomas Matter hat wohl im Namen aller an der Burgerversammlung anwesenden Personen gesprochen, als er in seiner kurzen Ansprache festhielt: "Ich bin stolz darauf, ein Agarner Burger zu sein."
Zum Reglement der Burgergemeinde